Schon vor Corona machte einem die Meinungsvielfalt die Meinungsbildung schwer: Ein Artikel hier, ein Manifest da. Die eine Studie sagte das ein, die andere genau das Gegenteil. Von YouTube, anderen Social-Media-Plattformen und der Hölle, die sich in deren Kommentarspalten aufmacht, brauche ich gar nicht erst anzufangen. Dazu gesellen sich bewusst gestreute Fake News. Was kann man da noch glauben? Oder erst recht wissen? Plötzlich wird etwas immer lauter: das Nichtwissen.
[Dieser Artikel erschien das erste Mal im Mai 2020. Enough said.]
„Ich weiß, dass ich nicht weiß.“
Diesen schlauen Philosophen-Spruch tackern sich derzeit die Klügsten an die Brust: Vor allem Fachleute wie zum Beispiel Christian Drosten, also ausgerechnet die, die es doch am ehesten wissen müssten, sagen ganz offen: Sicher weiß man gerade gar nichts. Was heute Stand der Dinge ist, sieht morgen womöglich schon wieder ganz anders aus.
Und das macht Angst. Verdammt viel Angst. Wenn plötzlich keiner wirklich Bescheid weiß. Wer sich bislang top informiert und ach so aufgeklärt wähnte, der weiß auf einmal – nichts.
Nichtwissen ist nicht gleich Unwissen
Nichtwissen bedeutet, sich ganz bewusst und aus eigener Erkenntnis heraus eine Wissenslücke zuzugestehen. Man hat eben eingesehen, dass man selbst unmöglich alles wissen kann. Spirituell betrachtet, ist Unwissen übers Ego erhaben, denn hier räumt man sich ganz offen eine vermeintliche Schwäche ein.
Ganz im Gegenteil zum Unwissen bzw. zur Unwissenheit: Hier will jemand etwas gar nicht erst wissen (aktive Form). Oder die passive Form – und jetzt wird es gleich schmerzhaft, liebe*r Leser*in: Jemand weiß nicht, dass er nicht(s) weiß, und meint jedoch, er wisse sehr wohl – weil ihm nur partielles oder schlimmstenfalls sogar falsches Wissen vorliegt. Es wird ja auch schon mal bewusst Wissen verschleiert, manipuliert und vorenthalten. Will man sowas wissen? Lieber nicht. Aber gerade deswegen kann ich dir die arte-Doku „Forschung, Fake und faule Tricks“ nur ans Herz legen. Der Titel klingt erst einmal komisch, aber am Ende geht es um das Ringen nach Wahrheit.
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Nach dieser hervorragenden Doku war ich kurz davor, selbst Agnotolgie studieren zu wollen: Diese noch recht junge Geisteswissenschaft erforscht, wann, wie und wo mit welchen Mitteln gezielt falsches Wissen verbreitet wurde. Totaler brainfuck, und, ja, ziemlich ernüchternd.
Keiner weiß was, aber jeder redet mit
Diese Zeit [Anm. im Mai 2020] ist, wie sie ist, schon anstrengend genug: Jede*r wird auf aufs Elementarste zurückgeschmissen, Emotionen kollern Richtung Keller. Bei mir befinden sie sich in einem stetigen Auf und Ab. Zumindest habe ich eines schnell in den Griff bekommen: Mein Nichtwissen zu akzeptieren. Und dann auch recht schnell: Es zu praktizieren.
Da Gespräche rund um Corona gerne schnell in Streiterei ausarten, habe ich mich komplett ausgeklinkt. Natürlich habe ich eine Meinung dazu, die ich mir selbst so zusammengeschustert habe, wie sie mein Gehirn für sich und mich – eben das „System Miriam“ – als sinnvoll erachtet. Denn irgendeine Wahrheit basteln sich alle zusammen, weil das Gehirn sonst zusammenbrechen würde: Es fordert Kohärenz, Sinn, will verstehen. (Ausführliche Erklärung hierzu auf Wikipedia)
Meine Meinung ist nur meine Meinung.
Miriam Lochner, spiritualboheme.com
Ein Resultat aus meiner gefilterten Wahrnehmung.
Nicht mehr. Und nicht weniger.
Wenn Wahrnehmungen kollidieren
Ich erinnere mich gut an einen Streit vor vielen, vielen Jahren in meiner Familie. Den Grund dafür habe ich vergessen. Nicht jedoch den Spruch meiner Schwester, mit dem die Diskussion auf einen Schlag beendet war: „Dann ist das in deiner Wahrnehmung eben so!“ Schockierte Blicke, mir lag ein schnippisches „Damit machst du es dir viel zu einfach!“ bereits auf der Zunge, aber jeder fühlte: Verdammt, sie hat ja echt Recht damit.
So unterschiedlich, wie wir Menschen aufwachsen, geprägt werden, Dinge erleben, ja unser ganzes Leben meistern, ist es ein Wunder, dass wir überhaupt miteinander zurecht kommen. Jede*r von uns erlebt anders, fühlt anders, versteht anders. Was für den einen richtig ist, kann für die andere grundverkehrt sein. Und andersrum.
Also wird der, der in unseren Augen etwas Grundverkehrtes sagt oder macht, sich kaum denken: „Oh, jetzt liefere ich mit Absicht aber mal so richtig Bullshit ab!“ Er handelt nicht aus purem Nichtwissen – in seiner Welt ist das durchaus richtig. Und wer sind wir denn, dass wir behaupten könnten, er wüsste es nicht? Wissen wir es denn besser? Wirklich? Wer steckt hier gerade im Unwissen fest, ohne es zu wissen?
Und so meint es jeder am Schluss „gut“. Er handelt aus seiner inneren Überzeugung heraus, aus seinem Werte- und Wahrnehmungssystem.
Was können wir jetzt also machen?
Wir können mit unserer individuellen Wahrnehmung, unserem vermeintlichen Wissen und Wahrheiten um uns schmeißen und uns mit anderen Leuten streiten oder anderen damit die Stimmung oder den Tag versauen, oder …
wooohooo …
… wir können einfach mal die Klappe halten.
…
STILLE, GESPONDORT VON spiritualboheme.com
PS: Nicht, weil wir uns die Meinung verbieten lassen, das natürlich nicht.
Schweigen = aktiv gelebtes Nichtwissen
Auch wenn wir wissen, dass wir etwas (besser) wissen, ist es hie und da ratsam, die Klappe zu halten: Wenn man zu Beginn einer „Diskussion“ schon weiß, dass diese zu nichts führen wird (und Butter bei die Fische, das spüren wir doch oft genug), kann man sich und dem anderen einen Gefallen tun: Hör auf zu diskutieren. Ja, dann hast du deine Meinung halt einmal nicht durchgesetzt. Ist doch aber auch nicht schlimm. Denn die Frage ist letztlich doch auch:
Ist irgendjemandem mit dieser Meinung jetzt geholfen?
das kann man sich öfter mal fragen!
Wie wäre es, stattdessen über etwas Schönes, Gutes, Verbindendes zu sprechen. Oder den anderen zu fragen, wie er sich die Zeit nach Corona wünscht. Man könnte dem anderen eine Runde Meditieren vorschlagen oder einfach ein lustiges Katzenvideo zeigen. Aufheitern, ablenken, Annehmbares teilen statt Aggros schieben – das mag aufs Erste naiv, oberflächlich und wenig intelligent wirken. Aber man muss auch nicht ständig superclever sein. Freundlich und verständnisvoll reicht manchmal auch. Womöglich sogar mehr.
Aber obacht: Man könnte dich dann schlimmstenfalls für weise halten. Denn Weise verraten sich dadurch, dass sie wenig sagen, ihr Lächeln aber alles sagt.
PS: Wenn du genügend weißt, dass du hier grundsätzlich und überhaupt gerne als Autor*in aktiv werden würdest, dann melde dich gerne hier bei uns!
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Titelbild: Photo by James Rathmell on Unsplash
Zuerst erschienen auf auxkvisit.de am 5. Mai 2020